Kann der Besitz gestört werden? – Ja!
Ist das Erhalten eines Briefes über die Androhung einer Besitzstörungsklage immer mit einer Besitzstörung verbunden? – Jein!
Warum? Lesen Sie in folgendem Eintrag über die Quellenstraße 92 in Wien-Favoriten.
Zur Vorgeschichte:
Die Quellenstraße, bekannt für dichten Verkehr und berüchtigten Parkplatzmangel. Doch gegen Ende des Jahres 2024 machte sie aus einem ganz anderen Grund von sich reden: Zahlreiche Androhungen von Besitzstörungsklagen wurden dort verschickt und ca. 200 Menschen zahlten Pauschalen von rund EUR 400, um einem Gerichtsverfahren zu entgehen. (Siehe über „Geschäftsmasche“ hinter der Androhung einer Besitzstörungsklage.)
Der Auslöser?
Das Eingangstor der Quellenstraße 92, dessen Zu- und Einfahrt angeblich blockiert worden sei – und zwar durch Fahrzeuge, die auf der öffentlichen Straße unmittelbar vor dem Tor parkten.
Moment mal – parken wir nicht alle auf öffentlichem Grund? Gelten dort nicht die Kurzparkzone, das Parkpickerl und ähnliche Regelungen?
Richtig. Doch hier ist eine wichtige Unterscheidung zu treffen:
Das Parken vor privaten Garageneinfahrten oder Toren ist selbst dann unzulässig, wenn man sich auf öffentlichem Grund befindet. Dies stellt nämlich eine Störung des sogenannten Gehsteigüberfahrtrechts dar. Auf Deutsch: Das Recht ein Grundstück zu erreichen.
Das Gehsteigüberfahrtsrecht
Das „Gehsteigüberfahrtsrecht“ ist als privatrechtliches Sondernutzungsrecht einzustufen, das den Sinn hat, die Verbindung zwischen unbeweglicher Sache (Quellenstraße 92) und Außenwelt herzustellen. Das Erfordernis einer Verbindung zwischen der (unbeweglichen) Sache und der Außenwelt ist nämlich Teil des Eigentumsrechts und somit auch des Besitzes. Selbst wenn man also auf öffentlichem Grund steht, kann dies somit eine Besitzstörung darstellen.
Es ist allerdings nicht zwingend erforderlich, dass diese Verbindung in Form eines Gehsteigüberfahrtsrechts für Kraftfahrzeuge hergestellt wird. Würde man nämlich mit der Verbindung zur Außenwelt immer ein Gehsteigüberfahrtsrecht meinen, müsste das Stehen und Parken vor jedem Grundstück in Wien eine Besitzstörung darstellen. Dies ist aber wohlbekannt nicht der Fall.
In welcher Form das Recht besteht, hängt also davon ab, wie die Eigenschaften/Gegebenheiten des Grundstückes sind. Im Ergebnis lässt sich festhalten, dass ein solches privatrechtliches Sondernutzungsrecht nur dann besteht, wenn die Beschaffenheit des Grundstücks eine entsprechende Nutzung (Fahren in eine Garage oder dergleichen) tatsächlich ermöglicht.
Einfach gesagt kann eine Zu- und Einfahrt nur dann blockiert werden, wenn so eine überhaupt vorliegt. Das war in der Quellenstraße 92 nicht der Fall, wie wir im Folgenden sehen werden.
Wird das Gehsteigüberfahrtsrecht im Fall „Quellenstraße 92“ verletzt?
Wir behaupten, dass dieses nicht verletzt wird, weil das privatrechtliches Sondernutzungsrecht in Form eines Gehsteigüberfahrtsrechts gar nicht existiert.
Hierfür gibt es folgende Gründe:
- Das Eingangstor ist mit rund zwei Meter ist zu schmal. Die durchschnittliche Breite eines Autos in Österreich beträgt ohne Seitenspiegel etwa 181 cm, mit Seitenspiegeln jedoch mindestens 200 cm. (https://vcoe.at/blog/detail/zunehmend-breitere-pkw-verursachen-vielfache-probleme)
- Es steht kein Parkplatz hinter dem Eingangstor zur Verfügung.
- Der Innenraum hinter dem Eingangstor ist zu eng für Fahrzeuge.
- Weder der Grundbucheintrag noch der Kaufvertrag weisen auf eine Widmung als Privatparkplatz hin.
- Die Schwelle vor dem Eingangstor, die für Fahrzeuge gedacht sein soll wurde behördlich entfernt, weil die gesetzlichen Voraussetzungen für diese schon lange nicht mehr vorlagen.
- Kaum war die Schwelle verschwunden, verschwand wie von Zauberhand auch das Schild „Einfahrt freihalten“ – offenbar war der Besitz dann nicht mehr so ganz gestört, jetzt wo der äußere Anschein der Garageneinfahrt langsam aber sicher zerbrach.
Rückwirkend betrachtet kann also deshalb im Fall „Quellenstraße 92“ keine Besitzstörung vorliegen, weil das vermeintlich gestörte privatrechtliche Sondernutzungsrecht gar nicht gegeben war und ist.
Was passiert aber nun mit dem Geld, das zur Vermeidung eines Gerichtsverfahrens bezahlt wurde? Die Besitzstörungs-Show pausiert und die Sendung Irrtumsrecht startet.
Irrtum über die Vergleichsgrundlage
Beginnen wir mal einfach:
Rechtlich gesehen stellt die angebotene Möglichkeit, eine Pauschale zu zahlen, um ein Gerichtsverfahren zu vermeiden, eine Einladung zu einem außergerichtlichen Vergleich dar. Der Vergleich ist ein beiderseitiges Nachgeben. Im vorliegenden Fall verzichtet der vermeintlich Gestörte darauf, ein Verfahren gegen die angeblichen Störer einzuleiten. Im Gegenzug zahlen diese jeweils rund 400 Euro.
Allerdings unterlagen die vermeintlichen Störer einem grundlegenden Irrtum: Sie hielten sich – irrig – für Störer. Wie bereits dargelegt, existierte kein Recht, das verletzt worden sein könnte. Folglich lag weder eine Störung noch ein Störer im rechtlichen Sinne vor. Dennoch leisteten die Betroffenen Zahlungen.
Dieser Irrtum war kaum zufällig: In den entsprechenden Schreiben war durchgängig und mit Nachdruck von einer zweifelsfreien Störung die Rede. Zugleich wurde nahegelegt, die Zahlung einer Pauschale sei der Engel in der Asche, ein letzter Ausweg, um Schlimmeres – ein Gerichtsverfahren – zu vermeiden.
Im Ergebnis lag ein Irrtum über die Vergleichsgrundlage vor, weil der Gegenstand über welchen man sich verglichen hat – die Besitzstörung – gar nicht möglich war, da kein Besitzrecht verletzt wurde.
Rückforderungen
Auf Grundlage der oben genannten rechtlichen Argumente setzt sich unsere Kanzlei WSLAW nun im Rahmen einer Sammelklage für die Geschädigten des Vorfalls in der Quellenstraße 92 ein. Ziel des Gerichtsverfahrens ist es, die unberechtigt gezahlten Pauschalen zurückzufordern und die einst als letzter Ausweg angesehenen „Engel“ zurückzuholen.
Sind Sie auch davon betroffen?
Melden Sie sich gerne unter office@wslaw.at für weitere Informationen und die Teilnahme an der Sammelklage.